2021 bietet die Chance auf eine strategische Neuausrichtung der deutschen und europäischen Digitalpolitik. Auf bundespolitischer Ebene könnte eine im kommenden September ins Amt gewählte Bundesregierung neue Schwerpunkte setzen, digitalpolitische Versäumnisse aufholen und die Potenziale digitaler Technologien und Dienste für Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft heben. Auf europäischer Ebene stehen mit dem Digital Services Act sowie dem Digital Markets Act, der 2019 neu angetretenen Europäischen Kommission, wegweisende Gesetzgebungen an, die den europäischen digitalen Binnenmarkt für die nächsten Jahrzehnte entscheidend prägen werden. Oliver Süme, Vorstandsvorsitzender von eco – Verband der Internetwirtschaft e.V., fordert in diesem Kontext eine nachhaltigere Digitalpolitik, die Digitalisierung als Teil der Lösung vieler globaler Herausforderungen versteht und vorhandene Innovationpotenziale konsequenter nutzt als bisher. Die Internetwirtschaft braucht strategische, langfristig verbindliche, ressortübergreifende sowie europäisch synchronisierte politische Rahmenbedingungen. Nachhaltige Digitalisierung gelingt nur mit einer nachhaltigen Digitalpolitik, die die innovativen Effekte digitaler Innovationen von Anfang an mitdenkt und langfristig in ein regulatorisches Gesamtkonzept einbindet.
2020 war ein in jeder Hinsicht außergewöhnliches Jahr, das uns neben allem Negativen und Erschreckenden, das die Covid-19 Pandemie mit sich gebracht hat, auch gezeigt hat, welche Potenziale in digitalen Technologien und Diensten stecken, wenn wir sie entschlossen, verantwortungsvoll und gezielt einsetzen. Das Internet sowie eine starke digitale Infrastruktur haben uns geholfen, soziale Kontakte in Zeiten von Abstandsregeln aufrecht zu erhalten und unsere Arbeit aus dem Homeoffice zu erledigen. Ganze Geschäftsmodelle wurden erfolgreich aus der analogen in die Onlinewelt übertragen und selbst das in Deutschland lange sträflich vernachlässigte Thema digitales Lernen erlebt zwangsläufig aktuell eine Entwicklung, die unter anderen Bedingungen vermutlich X Jahre länger gebraucht hätte. Die Krise hat zu einem Digitalisierungsschub geführt und auch denen, die eher skeptisch auf die digitale Transformation blicken, bewiesen: Die Digitalisierung ist Teil der Lösung vieler Herausforderungen, denen wir uns – ob mit oder ohne Pandemie – in den kommenden Jahren stellen müssen, sei es der Umgang mit der Klimakrise, dem demografischen Wandel oder auch dem stetigen Kampf für Recht und Demokratie und Teilhabe auf der ganzen Welt.
Und dennoch liegen jetzt auch die offenen Digital-Baustellen klar und deutlich vor uns:
Am Sichtbarsten wird dies aktuell beim Thema Digitale Bildung, das am Industriestandort Deutschland nach wie vor in den Kinderschuhen steckt. Dass die Politik auch nach einem Dreivierteljahr Corona-Krise nur zwischen Präsenzunterricht oder Ferienverlängerung schwankt, anstatt endlich Konzepte zur bundesweiten Umsetzung digitalen Unterrichts vorzulegen sowie Schülern und Lehrern mit pragmatischen Lösungen bei technischen und datenschutzrechtlichen Fragen unter die Arme zu greifen, ist nicht nur verantwortungslos, sondern zeigt auch die nach wie vor eklatante digitale Inkompetenz in Bundes- und Landesregierungen.
Auch eGovernment ist in Deutschland kaum gelebte Praxis und dass weiterhin Gesundheitsämter mit Faxgeräten hantieren müssen beweist, dass auch in diesem Feld der Gesundheitswirtschaft noch viele offene Punkte in Sachen Digitalisierung nicht angegangen wurden.
Digitalpolitische Rückschritte trotz digitalem Aufschwung während Covid-19
Klar ist daher auch: Der digitale Wandel muss politisch gestaltet werden und braucht Rahmenbedingungen, die Innovationen fördern, Unternehmen Rechtssicherheit und ökonomische Handlungsspielräume bieten sowie gleichzeitig die Rechte der NutzerInnen wahren.
Leider hat die Bundesregierung in den vergangenen Monaten einmal mehr bewiesen, dass ihr nach wie vor die nötigen Visionen für eine digitale Gesellschaft, die digitalen Kompetenzen sowie in erster Linie wohl auch der politische Gestaltungswille für diese Aufgabe fehlen.
Betrachtet man allein die in der letzten Kabinettssitzung in aller Eile und angesichts lächerlich kurzer Fristen praktisch ohne stattgefundener Konsultation der Verbände und Zivilgesellschaft durchgewunkenen Beschlüsse zum IT-Sicherheitsgesetz 2.0, dem neuen Telekommunikationsgesetz sowie dem BND-Gesetz, muss man sich zwangsläufig fragen, wie ernst es der Bundesregierung mit dem in der Digitalen Agenda formulierten Ziel ist, Deutschland zu einem der sichersten digitalen Standorte weltweit zu machen. Tatsächlich beschädigen diese Gesetze die Vertrauenswürdigkeit digitaler Kommunikation in Deutschland und befördern stattdessen staatliche Überwachung sowie eine Schwächung der allgemeinen IT-Sicherheit.
Ohne Vertrauen in die Sicherheit und Integrität der digitalen Welt wird es nicht gelingen, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Potenziale des digitalen Wandels zu erschließen. Auch die Konterkarierung von Verschlüsselung sowie das Festhalten an der durch verschiedene EuGH Urteile eigentlich unzulässigen Vorratsdatenspeicherung, lassen Zweifel daran aufkommen, ob diese Bundesregierung die Bedeutung und vor allem die Chancen dieses digitalen Wandels tatsächlich erkannt hat.
Europäische Ratspräsidentschaft: digitalpolitisch wenig erreicht
Auch auf europäischer Ebene hat die Bundesregierung im Rahmen ihrer in diesem Monat endenden Ratspräsidentschaft die Chance verpasst, wichtige Weichen für ein zukunftsfähiges digitales Europa zu stellen. Besonders enttäuschend fällt die Bilanz in Bezug auf das Thema nachhaltige Digitalisierung aus, das die Bundesregierung selbst ja sogar zu ihrem Fokusthema des diesjährigen Digitalgipfels gemacht hat.
So hat zwar eine Konsultation zur Reform der Energiesteuerrichtlinie stattgefunden, jedoch geht diese Entwicklung primär auf die Arbeit der EU-Kommission zurück. Auch der Ausbau erneuerbarer Energien für nachhaltige digitale Infrastrukturen lag nicht im Fokus der deutschen EU-Ratspräsidentschaft und Bundesumweltministerin Svenja Schulze.
Auf der einen Seite, das erklärte Ziel klimaneutraler Rechenzentren bis 2030 – auf der anderen Seite ein Festhalten am Kohleausstieg in Deutschland erst in 2038. Dieses Vorgehen ist leider symptomatisch für die inkonsistente und wenig nachhaltige Digitalpolitik in Deutschland.
Dabei ist klar: Eine forcierte Digitalisierung trägt durch das CO2-Einsparpotential nicht nur zum Umwelt- und Klimaschutz bei, sondern leistet einen wesentlichen Beitrag zum Erreichen der Klimaziele.
Eine an Nachhaltigkeitsprinzipien orientierte Digitalpolitik, würde solche Effekte digitaler Innovationen von Anfang an mitdenken und langfristig in ein regulatorisches Gesamtkonzept einbinden, anstatt kurzfristig gedacht lediglich Regeln zur CO2-Einsparung in Rechenzentren aufzustellen.
In vielerlei Hinsicht war das Jahr 2020 also eher ein digitalpolitischer Rückschritt, was besonders bedauerlich ist, angesichts des digitalen Aufschwungs, den wir in vielen Bereichen erleben durften.
Ausblick 2021: Hoffnung auf Neuausrichtung der Digitalpolitik durch neue Bundesregierung
Doch 2021 weckt Hoffnung, dass mit einer im September gewählten neuen Bundesregierung auch eine Neuausrichtung der Digitalpolitik in Deutschland erfolgen könnte. Und jetzt ist die Zeit zur Festlegung auf strategisch relevante Themen und Ziele für die späteren Wahlprogramme. Unsere Forderung: Digitalpolitik muss vom bundespolitischen Nischenthema in den Mittelpunkt und Fokus einer jeden neuen Bundesregierung gerückt werden.
Ein Digitalministerium hat eco bereits vor der letzten Bundestagswahl gefordert – für die nächste Legislaturperiode ist es absolut überfällig. Diese Erkenntnis hat sich inzwischen erfreulicherweise auch in den meisten Parteien durchgesetzt. Die vergangen drei Jahre Digitalpolitik haben gezeigt, dass es ein zentrales Ressort braucht, welches die Fäden zusammenführt und die großen Linien der digitalen Agenda im Blick behält. Nur so lässt sich das Kompetenzgerangel und die Inkonsistenz der letzten Jahre im Bereich Digitalpolitik verhindern. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, braucht dieses Ressort natürlich ausreichend Budget und die nötigen Kompetenzen, die gegebenenfalls auch eine Anpassung der aktuellen Prozesse und Geschäftsordnung innerhalb der Bundesregierung nötig machen.
Europäische Lösungen statt Flickenteppich nationaler Gesetzgebungen
Auf europäischer Ebene dürfte im kommenden Jahr insbesondere die Ausgestaltung des kürzlich von der EU Kommission vorgestellten großen Gesetzespaketes zur Regulierung von digitalen Dienstleistungen (Digital Services Act) und digitalen Märkten (Digital Markets Act) im Fokus der digitalpolitischen Debatten stehen. Mit diesem soll u.a. die E-Commerce Richtlinie an die technischen Entwicklungen im Internet der letzten 20 Jahre angepasst und die europäische Regulierung fit für die kommenden Jahre gemacht werden. Dabei geht es u.a. um den Nährboden für die nächste Generation von Internetdiensten, die Regulierung aller digitalen Dienstleister auf dem europäischen Markt sowie um die Wettbewerbsfähigkeit.
Hierfür gilt es für die sehr unterschiedlichen Dienste und deren verschiedene Geschäftsmodelle differenzierte aber EU-weit einheitliche Regelungen zu treffen. Dabei scheint die EU-Kommission einen akzeptablen Weg eingeschlagen zu haben, der u.a. das bewährte Haftungsregime beibehalten soll und nicht jeden Diensteanbieter gleich behandelt. Auch das Verbot der allgemeinen Überwachungspflicht soll weiterhin Bestand haben. Wichtig sind jedenfalls unmissverständliche Definitionen und Klarheit darüber, wer zukünftig welchen Regelungen unterliegen soll. Einfachheit, Nachvollziehbarkeit und Transparenz werden hier genauso entscheidend sein wie ein Augenmaß beim Umfang der Verpflichtungen für Internetdiensteanbieter, Inhalteanbieter und Intermediäre. Gerade auch vor dem Hintergrund der vorgesehenen Sanktionen und hohen Bußgelder. Der Strukturwandel die Digitalisierung ist eine Herausforderung für die gesamte Wirtschaft. Daher sind faire Wettbewerbsbedingungen wichtig.
Gemeinsam für das Gute im Netz
2021 birgt viele Ungewissheiten, insbesondere in Bezug auf die weitere Pandemieentwicklung. Umso dringlicher ist es, dass wir einen klaren und langfristigen Fahrplan entwickeln, wie wir mit dieser und anderen disruptiven Entwicklungen unserer Umwelt und unserer Gesellschaft in Zukunft umgehen wollen. Die Digitalisierung wird uns hier auch in Zukunft effektive und wirkmächtige Lösungen anbieten. Es liegt an uns, diese so einzusetzen, dass möglichst alle von diesen Lösungen profitieren können.
Wir müssen dahinkommen, Herausforderungen ganzheitlich zu denken und gemeinsame Lösungen zu entwickeln, die sowohl der Gesellschaft, als auch der Wirtschaft und dem Digitalstandort Deutschland nützen. Eine Blaupause für die gemeinsame Bewältigung globaler Herausforderungen ist das europäische Infrastrukturprojekt GAIA-X, das in diesem Jahr mit Unterstützung von eco e.V. erfolgreich gestartet ist. Es zeigt, wie viel wir erreichen können, wenn Gesellschaft, Wirtschaft und Politik zusammenarbeiten.
Ein weiterer Leuchtturm für erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Staat und Wirtschaft im digitalen Bereich ist die eco Beschwerdestelle, deren 25-jähriges Jubiläum wir im nächsten Jahr feiern. Das Geburtstagsmotto lautet „Gemeinsam für das Gute im Netz“ – eine Losung, die sich auch gut als Überschrift für das digitalpolitische Jahr 2021 eignen würde.