18.01.2022

Catena-X und Gaia-X: Eine Frage des Betriebs

Von Nils Klute, Projektmanager Kommunikation EuroCloud Deutschland

Über verteilte Datenökosysteme erfindet sich die Automobilindustrie mit ihren Produkten gerade neu. Aber: „Wir müssen Catena-X mehr vom Ende denken“, sagt Hartmut Müller, Vice President IT Technology & Cross Functions bei der Daimler AG. Wie dezentrale Infrastrukturen Hyperscaler herausfordern und IT den Premiumanspruch des Automobils sichert.

eurocloud.de: Herr Müller, was sind Ihre Aufgaben als CTO bei Daimler?

Hartmut Müller: Mein Team und ich statten das Unternehmen aus strategischer Sicht mit den richtigen Technologien aus. Kurz gesagt umfasst das nicht nur Netze, Rechenzentren, Konnektivität und Security, sondern zudem die Operational Technology, also IT-Komponenten, die wir in unseren Fabriken einsetzen.

Welche Rolle spielt IT heute in der Automobilfertigung?

Zum einen wird das Automobil selbst zum IT-Produkt, das sich mit anderen Fahrzeugen, seiner Umgebung, aber auch Werkstätten, Händler:innen und Produzent:innen vernetzt. Und zum anderen ist die IT heute das zentrale Fundament, um überhaupt agil und individuell fertigen zu können.

Wo liegen da die Herausforderungen?

Unsere Branche erlebt eine enorme Beschleunigung, produziert in immer kürzerer Zeit mehr Modelle. Damit das ökonomisch und ökologisch gelingt, ist es notwendig, die Fertigung zu modularisieren und zu flexibilisieren – moderne IT-Systeme und -Komponenten machen das möglich. Oft lassen sich die Potenziale jedoch noch nicht komplett ausschöpfen, weil starres Legacy-Equipment, unflexible Softwaremonolithen und vererbte Altlasten die Chancen ausbremsen.

Wie lässt sich das lösen?

Über Standards, einheitliche Schnittstellen und Open Source können Produzent:innen ihr IT-Fundament von den Herausforderungen vergangener Tage entkoppeln. Die Unternehmen werden agiler, resilienter und integrieren Innovationen viel unmittelbarer in Fertigungsprozesse, Produkte und Geschäftsmodelle.

Welche Rollen spielen da bereits Daten?

Daten zu sammeln, zu strukturieren und nutzbar zu machen, ist heute entscheidend. Momentan fokussiert sich die Branche auf ihre internen Schnittstellen. Heißt konkret: Wir wollen überall dort Potenziale auszuschöpfen, wo wir beispielsweise fertigen, transportieren, entwickeln oder prüfen und bereits über unsere Anlagen, Maschinen oder Roboter Daten erzeugen. Das umfasst dann interne Produktions- und Logistikketten sowie vielschichtig verzweigte Wertschöpfungsnetzwerke, in denen wir etwa mit Zulieferer:innen global zusammenarbeiten. Genau hier bleiben die Chancen zu oft in Datensilos liegen.

Was braucht es, um diese Chancen auszuschöpfen?

Zum Beispiel Marktplätze, um Maschinen-, Betriebs- und Zustandsdaten realzeitlich bereitzustellen und souverän auszutauschen. Plattformen, um Daten zu strukturieren, zu raffinieren, zu aggregieren und jederzeit sicher, Compliance- und Governance-konform zu verarbeiten.

Wieviel davon steckt in Catena-X?

Genau diesen Datenaustausch wird Catena-X moderieren können. Jenseits aller Technologiefragen ist eines aber grundsätzlich noch nicht gelöst: das Betriebsmodell.

Welche Fragen stellen sich da?

Momentan handelt es sich um eine geförderte Initiative. Aber wer wird Catena-X später verantworten? Welche Ziele werden die Betreibenden verfolgen? Wer treibt die Entwicklung voran? Wie viele Open Source wird im Ökosystem stecken? Wie einfach wird es für Entwickler:innen, ihre Services zu vermarkten? Und wird das Projekt auch in der Lage sein, Datenströme global zu harmonisieren?

Was empfehlen Sie?

Wir müssen Catena-X mehr vom Ende denken und definieren, wo das Projekt in wenigen Jahren stehen möchte. Ein klareres Zielbild würde dabei helfen, Catena-X in eine lebende Betriebsorganisation zu übersetzen, die ein vitales Ökosystem schafft, das attraktiv für alle ist, die Daten einbringen, verarbeiten und entsprechende Services beispielweise über die Blockchain monetarisieren wollen.

Stichwort Blockchain: Welche Rolle spielt die Technologie in dem Kontext?

Wir sehen Distributed Ledger Technologien (DLT) in einer frühen Entwicklungsphase. Bei Daimler haben wir sie noch nicht in unsere Kernprozesse implementiert. Aber DLT ist für uns eine Lösung, um Zahlungsströme und Verträge zu sichern und zu automatisieren. Darüber hinaus kann die Blockchain die Basis werden, um verteilte Applikationen zu realisieren, die sich höher verfügbar bereitstellen lassen, als das bislang in Rechenzentren möglich war.

Heißt praktisch?

Beispielsweise sind Anwendungen denkbar, die wir verteilt über Autos und Rechenzentren betreiben. Dabei erlaubt es uns DLT, die Art und Weise, wie wir Daten verarbeiten und austauschen, neu zu managen. Darüber hinaus sehen wir Blockchain als Schlüssel zur digitalen Identität – nicht nur, für Fahrer:innen, sondern für jedes einzelne von uns verbaute Teil.

Und im Hinblick auf Catena-X?

Vielleicht weist die Blockchain den Weg zu echter Technologiesouveränität! Momentan verfolgen wir in Catena-X Konzepte, die auf den Standards der International Data Spaces Association basieren, um die notwendige Digitale Souveränität zu realisieren. Dies hält uns jedoch nicht davor zurück, auch weitreichendere Ansätze zu beleuchten. In einem dezentralen und verteilten Ökosystem, das Rechen- und Speicherressourcen entkoppelt, kommt es darauf an, Konzepte zu entwickeln, wie sich verteilte Computing Ressourcen effizient nutzen lassen. Ein derartiges Modell fordert auch die Hyperscaler heraus.

Warum?

Weil dezentrale und verteilte Ökosysteme die Daten, die man sonst erst aufwändig sammeln muss, direkt souverän bereitstellen. Die Cloud der Hyperscaler wird dabei nicht mehr zur zentral beherrschenden Plattform, sondern nur Teil eines Mesh. Teilnehmer:innen an diesen Ökosystemen können zum Beispiel in unseren Werken, nahe der Produktion stehen, quasi als Edge Cloud. Das lässt neue Geschäftsmodelle im Einklang mit europäischen Anforderungen zu.

Apropos Europa: Inwiefern hängt der Erfolg von Catena-X mit Gaia-X zusammen?

Catena-X fußt auf den Werten, Ideen und Technologien von Gaia-X und bringt sich als dezentralen Use Case in die laufende Entwicklung ein. Erfolgsentscheidend für beide Projekte wird die Gravitation sein, die sie erzeugen können – für Unternehmen, die ihre Daten bereitstellen sollen und Provider, die ihre Services zertifiziert anbieten möchten, um auf dem europäischen digitalen Binnenmarkt Werte zu schöpfen.

Wie bewerten Sie den Fortschritt beider Initiativen?

Mir geht es bei Gaia-X zu langsam. Catena-X kommt voran, aber die Betriebsfrage bleibt unklar. Obendrein bremsen sich die vielen Meinungen, die in den Arbeitsgruppen aufeinandertreffen, gegenseitig aus. Auch müssen wir das Vertrauen der vielen kleineren Lieferant:innen gewinnen und Anreize bereitstellen, um an dem Marktplatz zu partizipieren. Ein technologie- und datensouveränes Europa braucht mehr Tempo! Schließlich steht die Wettbewerbsfähigkeit unseres Kontinents und unser Selbstverständnis als Innovations- und Wirtschaftsstandort auf dem Spiel.

Und was steht dieser Tage für die digitale, Daten- und IT-basierte Automobilindustrie auf dem Spiel?

Ganz einfach: Differenzierten sich Autos bislang durch Design, Ausstattungsmerkmale, Sicherheitsfunktionen und Komfort, werden bald internetbasierte Services den Unterschied machen. Den Premiumanspruch von morgen erfüllen wir bei Daimler weiterhin über die erstklassigen Leistungen unserer Ingenieur:innen – aber darüber hinaus auch in einem viel stärkeren Maße über den PKW als IT-Produkt. Smarte Lösungen auf Security-Fragen sind die Verkaufsargumente und Alleinstellungsmerkmale des Automobils von morgen.

Wir danken für das Gespräch!

 

Zur Person

Hartmut Müller, Vice President IT Technology & Cross Functions bei der Daimler AG, leitet die IT-Technologie und die Querschnittsfunktionen einer globalen Organisation mit mehr als 5000 Mitarbeitern, die das Technologie- und Plattformgeschäft von Daimler, die IT-Infrastruktur, die Cybersicherheit, die Unternehmensarchitektur und die IT Global Service Delivery vorantreiben. Zuvor war er in leitender Funktion bei der Deutschen Telekom AG tätig. Dort war er zuletzt als Senior Vice President Business Solutions und CIO für das B2B-Geschäft verantwortlich. In dieser Funktion trieb er die Digitalisierung, Innovation und agile Transformation des Unternehmens voran.

Zusätzlich zu seinen Managementaufgaben leitete er Programme unter anderem in den Bereichen M&A, Kulturwandel und Portfoliomanagement. Er coacht Six Sigma Black Belts und ist als Assessor für Führungspositionen tätig. Er studierte Wirtschaftswissenschaften und Informatik an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Karlsruhe.

Hartmut Müller