Ob Impfpass, Personalausweis, Führerschein oder Zeugnisse: Unser Alltag basiert noch zu stark auf physischen Dokumenten, was die Digitalisierung hemmt, sagt eco Vorstand Prof. Norbert Pohlmann im Interview. Aber mit Self-Sovereign Identity (SSI) werden Prozesse in Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft enorm vereinfacht und viele Abläufe können nun sicher und vertrauenswürdig digitalisiert werden.
Herr Pohlmann, warum sind digitale Identitäten so wichtig für die weitere Digitalisierung?
Die aktuelle Diskussion um den digitalen Impfpass zeigt deutlich: Wichtige und personalisierte Nachweise sollten uns auch digital zur Verfügung stehen. Wenn wir unseren Corona-Impfnachweis im Handy immer dabei haben erleichtert das viele Abläufe. Denn bei einem Restaurant- oder Konzertbesuch, kann so alles automatisiert im Hintergrund ohne großen Aufwand sicher und vertrauenswürdig überprüft und verarbeitet werden. Das ist nur einer der vielfältigen Vorteile, die sogar einen positiven Einfluss auf das Bruttoinlandsprodukt haben. Laut einer Studie können digitale Identitäten einen wirtschaftlichen Nutzen äquivalent zu 3 bis 4 Prozent des BIP in 2030 ermöglichen*. Aus diesem Grund sollten sich die Unternehmen damit vertraut machen, um die Vorteile optimal nutzen zu können.
Was lässt sich denn alles digital nachweisen?
Das Spektrum ist extrem vielfältig, angefangen bei Geburtsurkunden, Baugenehmigungen, Weiterbildungsnachweisen bis hin zu Buchungsbestätigungen, Gehaltsnachweisen für einen Kredit oder Zeugnissen bei einer Bewerbung. Ein gutes Beispiel für einen Standard-Prozess ist das Mieten eines Autos. Dies lässt sich viel einfacher abwickeln, wenn mir mein Führerschein, Kreditkarte und Personalausweis als verifizierbare digitale Nachweise vorliegen. Denn dann kann ich der Autovermietung einfach per Handy-App die notwendigen digitalen Nachweise zur Verfügung stellen, damit diese in deren digitalen Prozessen automatisiert auf Echtheit überprüft und sofort verarbeitet werden können. Das aufwendige Eingeben aller Daten in den Computer entfällt, was Zeit und Kosten spart. Aus diesem Grund macht es sehr viel Sinn, dass Anwendungen diese Möglichkeiten umsetzen, um noch besser digitalisieren zu können.
Wie lassen sich entsprechende Nachweise digital führen?
Das Ziel ist ein europäisches Ökosystem zur Ausgabe und Verifizierung digitaler Identitäten und Nachweise auf der Basis von Self-Sovereign Identity (SSI). Hier sind die Nutzer im Besitz ihrer digitalen Identitäten und weiterer verifizierbarer digitaler Nachweise, sogenannte Verifiable Credentials (VC), und können diese auch gleichzeitig kontrollieren, ohne hierfür auf eine zentrale Stelle angewiesen zu sein. Das löst uns aus der Abhängigkeit von einzelnen monopolierten Anbietern und fördert eine unabhängige sowie schnellere Digitalisierung. Damit stärken wir insbesondere die Privatsphäre und ermöglichen den Nutzern einen souveränen Umgang mit ihren privaten Daten.
Was heißt „selbstbestimmte“ Identitäten?
Selbstbestimmt heißt, alle Nutzer können eigenverantwortlich entscheiden, welcher Anwendung sie wann ihre digitalen Identitätsdaten und weitere Nachweise zur Verfügung stellen. So kann beispielsweise das Bürgeramt einer Kommune einen digitalen Führerschein ausstellen oder weitere digitale Berechtigungen ausstellen, wie etwa eine Durchfahrtsgenehmigung oder den Nachweis zum Führen eines Hundes. Diese digitalen Nachweise können Nutzer dann beispielsweise im Smartphone in ihrer SSI App mitführen und jeder Stelle zur Verfügung stellen, die diese zur Verifizierung eines Vorgangs benötigt. Ein gutes Beispiel für einen sinnvollen Einsatz ist die Bereitstellung verifizierbarer digitaler Zeugnisse für einen potenziellen Arbeitgeber im Bewerbungsprozess. Und im Weiteren kann – direkt am ersten Tag des Arbeitsbeginns – dann im Dienstausweis auch eine entsprechende Zutrittsregelung im Gebäude darin abgespeichert werden. Die Anwendungsvielfalt ist also sehr groß.
Welche Rolle spielen dabei Blockchain und andere Distributed-Ledger-Lösungen?
Im SSI-Ökosystem für digitale Identitäten spielen drei Akteure eine Rolle: Aussteller, Besitzer und Verifizierer der Identitäten. Für diese drei Beteiligten stellt die Blockchain einen idealen und passenden Vertrauensdienst dar, denn sie bietet als dezentrales Netzwerk IT-Sicherheits- und Vertrauenswürdigkeitsmechanismen. Die Akteure sind in der Lage, sowohl Echtheit und Ursprung als auch die Unversehrtheit der digitalen Identitätsdaten und Nachweise zu überprüfen, ohne dass die Blockchain die eigentliche Identität oder die digitalen Nachweise der Nutzer kennt. Außerdem geht die Abhängigkeit von einer zentralen Institution bei der Verwendung einer Blockchain verloren. Mittels einer von einem Konsortium betriebenen Blockchain lassen sich die Informationen zur Verifizierung der digitalen Nachweise in einem Blockchain-basierten Ökosystem ideal verwalten. Der eco arbeitet zurzeit auch an einem standardisierten und offenen Blockchain Governance Framework, um damit für eine höhere Vertrauenswürdigkeit des Betriebs einer Blockchain zu sorgen, insbesondere auch im SSI-Umfeld.
Herr Pohlmann, vielen Dank für das Interview!
*Quelle: MGI Studie „Digital identification – A key to inclusive growth”; IHS Markit