Es gibt tausende gute Gründe, warum die Internetwirtschaft weibliche Verstärkung braucht. Schließlich stehen zahlreiche Jobangebote dem Fachkräftemangel gegenüber oder aber homogene Teams und Denkweisen Innovationen im Wege. Die Digitalbranche boomt, täglich entstehen neue digitale Geschäftsmodelle und schaffen lukrative Jobs, doch die lassen sich Frauen noch zu häufig entgehen. Wir wollen das ändern. In unserer Serie „Frauen in der Tech-Branche“ kommen inspirierende weibliche Fach- und Führungskräfte der Internetbranche zu Wort. Dabei sprechen wir über die wirklich wichtigen Themen: von Entwicklungsperspektiven über Karrieretipps und Zukunftswünsche bis hin zu den Herausforderungen in einem männerdominierten Arbeitsumfeld und warum Arbeit in der Internetbranche Spaß macht. Dieses Mal mit: Claudia Pohlink, Head of Artificial Intelligence und Machine Learning, T-Labs
Als Head of Artificial Intelligence und Machine Learning bei den T-Labs, der Einheit für Forschung und Entwicklung bei der Telekom, beschäftigst du dich mit deinem 20-köpfigen Team (inkl. Studenten und Azubis) u. a. mit der Nutzung von KI im Bereich Cyber Security, Quantum Tech und in der Automation von Netzwerken. Wie sieht dein Arbeitsalltag aus und was gefällt dir ganz besonders an deinem Job?
Claudia Pohlink: Bei den T-Labs sind wir so eine Art Brückenbauer zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Wir agieren als Tech-Scouts. Dazu gehört z. B. die Identifikation von Trends – ein aktuelles Beispiel ist Zero Shot Learning. Damit kann ich einer KI – ohne, dass diese das Bild eines Zebras hat – ermöglichen, zukünftig ein Bild von einem Zebra zu erkennen, indem ich die KI mit einem Bild eines Pferdes trainiere und die fehlenden Informationen über Textformulierungen (z. B. + weiß, + Streifen) hinzufüge. Wir identifizieren einerseits derartige Themen, die an Universitäten und auf wissenschaftlichen Konferenzen oder in wissenschaftlichen Papern diskutiert werden und leiten anderseits daraus Handlungs- und Geschäftsfelder für uns als Unternehmen ab. Dabei kooperieren wir mit Forschungseinrichtungen, Start-ups und Universitäten und lassen uns von der Frage leiten: Welche Themen haben für uns als Telekommunikationsunternehmen in den nächsten fünf bis zehn Jahren Relevanz? Das Spannendste an meinem Job ist daher, dass ich mich immer mit den neuesten Trends beschäftige und das macht mir unheimlich viel Spaß und Freude.
Was sind aus deiner Sicht die Tech-Trends für 2021? Was wird im Bereich KI und Machine Learning die nächste disruptive Innovation bzw. the next big thing?
Pohlink: The next big ist ganz klar Quantum. Allein, wie rasant sich in diesem Bereich die Hardware entwickelt. IBM ist beispielsweise sehr stark in diesem Bereich. D-Wave aus Kanada und Google sind hier ebenfalls Pioniere und entwickeln entsprechende Hardware. Auch Amazon will jetzt in Richtung Hardware-Entwicklung gehen. Bei weiteren großen Playern wie Microsoft oder Alibaba ist in dem Themengebiet unheimlich viel in Bewegung. Im Kontext der Hardware-Entwicklung ist natürlich auch die Entwicklung von Applikationen relevant. Das ist beim Quantum Computing eine komplett neue Ära, weil das klassisch in der Informatik gelernte Programmieren mit Nullen und Einsen abgelöst wird. Dabei werden die Effekte und Erkenntnisse der Quantenphysik in die Informatik eingebracht und später sogar mit KI und Machine Learning veredelt. Das ist wirklich eine disruptive, vollkommene neue Art der Verarbeitung von Daten – und zwar von enorm großen Mengen in einer enormen Geschwindigkeit.
Was bedeutet das konkret für die Wirtschaft?
Pohlink: Nehmen wir als aktuelles Beispiel Verkehrsflüsse und deren Navigation. Wenn wir im Auto das Navigationssystem nutzen und fahren in einen Stau, bekommen wir eine Alternativroute angezeigt. Jedoch nutzen andere Fahrer die identische Route, um dem Stau auszuweichen mit der Folge, dass auf der Alternativstrecke ebenfalls ein Stau entsteht.
Durch Quanten-Computing steigen die Möglichkeiten und Kombinationen für Alternativrouten immens. Quantum ermöglicht es, den Verkehr in Echtzeit zu managen, ohne, dass irgendwelche Nachteile entstehen, indem beispielsweise Auto A nach rechts und Auto B nach links geschickt wird. Quanten Computing kann nicht nur die kürzeste Route oder die schnellste Route als Variable mitverarbeiten, sondern viel mehr Variablen einbeziehen wie z.B. 30er-Zonen, Diesel-Fahrverbotszonen usw. Aktuell kann dies kein klassischer Computer in Echtzeit leisten, weil es einfach zu viele Kombinationsmöglichkeiten sind. Die Quantenphysik und das Quanten Computing machen derart komplexe Berechnungen in enormer Geschwindigkeit und Komplexität möglich. Dies wird zur Lösung komplexer, globaler Probleme zukünftig maßgeblich beitragen.
Was heißt das für unsere digitalen Infrastrukturen dahinter? Die Daten müssen ja auch verarbeitet werden. Wann wird es aus Deiner Sicht erste Use Cases auf Quantum-Basis geben?
Pohlink: Das ist sicherlich eine Frage, die sich alle aktuell stellen. Ich glaube, innerhalb der nächsten fünf Jahre werden auf jeden Fall konkrete Use Cases umgesetzt werden. In erster Linie wird dies Anwendungsbeispiele in den Bereichen Chemie, Molekularbiologie und in der Finanzindustrie betreffen. Es geht jedoch nicht nur um die Schnelligkeit, sondern um die Bewältigung komplexer Rechenaufgaben, die zuvor noch nie gelöst werden konnten. Einem Forschungsteam der Freien Universität Berlin ist es beispielsweise jüngst mithilfe von KI gelungen, die Schrödinger Gleichung zu lösen. Daher bin ich sehr optimistisch, dass wir zukünftig mit Quantum-Technologien globale, komplexe Herausforderungen bewältigen können.
KI kann auf der einen Seite also sehr viel Positives bewirken, auf der anderen Seite gibt es jedoch auch Beispiele, wo KI-basierte Lösungen beispielsweise zur Verstärkung von Bias beitragen. Sind Ängste gegenüber KI aus deiner Sicht begründet?
Pohlink: In der Anwendung sehen wir aktuell KI-basierte Lösungen für stupide, repetitive Aufgaben, die aneinandergereiht sind und ausgeführt werden: wie beispielsweise Roboter, die im Takt tanzen, Stufen steigen oder Überschläge machen. Das ist cool, aber nicht wirklich intelligent. Eine KI kann heutzutage in der Regel eine Sache besonders gut: z. B. Schachspielen, Tanzen oder Gesichter erkennen. Es gibt aber bisher kaum Entwicklungen, die in der Lage sind, mehrere Aufgaben zu lösen. Daher sind die Ängste in jedem Fall unbegründet. Von wirklich intelligenter KI sind wir noch weit entfernt. Selbstverständlich berücksichtigen wir in der Technologieentwicklung stets die gesellschaftlichen Auswirkungen.
Im Bereich Cyber Security setzt ihr euch dafür ein, unbewusste oder bewusste Risiken von KI-Algorithmen zu erkennen und zu minimieren und habt eine technische Lösung entwickelt, die Bias technisch messbar macht. Wie funktioniert das genau? Und inwiefern hilft sie, Bias zu eliminieren oder nachzujustieren?
Pohlink: Zunächst unterscheiden wir zwischen bewussten und unbewussten Gefahren, wobei erstere durch gezielte Manipulation oder Attacken zu Verzerrungen im System führen. Einige kennen das vielleicht schon aus dem Bereich Autonomes Fahren, wenn ein Stoppschild mit einem Aufkleber versehen wird und damit die KI des Autos manipuliert werden kann. Auf unser Telekommunikationsgeschäft übertragen wäre dies zum Beispiel bei einem Sprachassistenten denkbar. Wir machen unsere Systeme robust gegen derartige Angriffe, sodass niemand durch das Hinzufügen von Störgeräuschen plötzlich einen von uns nicht-intendierten Befehl auslösen kann.
Daneben widmen wir uns der Prävention von unbewussten Verzerrungen, den so genannten Bias. Für uns als Telekommunikationsunternehmen ist es beispielsweise wichtig, dass unsere Mobil- und Festnetz-Bestandskunden nicht zur Konkurrenz abwandern. Um Kunden zu halten, setzen wir natürlich auch auf spezielle Marketing-Aktionen. Bei einer Ländergesellschaft haben wir festgestellt, dass durch einen Bias im System Kunden über 50 Jahren bestimmte Marketingaktionen nicht angeboten wurden. Einfach, weil die KI gelernt hatte, dass Menschen über 50 ihre Verträge nicht wechseln. Aber die Menschen, die heute 50 sind, sind sicherlich ganz anders als vor zehn Jahren. Bias können somit durchaus geschäftsschädigend sein, daher setzen wir auf technische Lösungen, die Bias in KI-basierten System erkennen. Unser drittes zentrales Thema ist der Privacy-Bereich. Wir kümmern uns darum, dass auch die Test- und Trainingsdaten, die bei Machine-Learning-Modellen genutzt werden, umfassend geschützt sind.
Welches gesellschaftliche Problem würdest du persönlich gerne durch KI lösen?
Pohlink: Ich bin fest davon überzeugt, dass KI bei der Bewältigung einiger gesellschaftlicher Probleme hilfreich sein kann. Was mich persönlich besonders begeistert, ist die Verknüpfung von Medizinforschung und KI. Vor einer Kombination dieser beiden Bereiche, die Krebs besiegt, hätte ich den größten Respekt. Generell wünsche ich mir, dass Europa bei KI-Entwicklungen stärker in den Fokus rückt – bei der Impfstoff-Entwicklung hat das ja auch sehr gut funktioniert.
Du bist Tochter eines Mathematikers und einer Mutter, die im IT-Bereich arbeitete, und hattest somit schon früh Berührungspunkte mit MINT und IT. Du setzt dich für die digitale Bildung von Kindern ein und bist auch Speakerin zu Themen wie Diversity und digitaler Bildung. Wo liegen aus deiner Sicht als KI/ML- und Robotics-Expertin und als Mutter die Herausforderung in der digitalen Bildung und was können Politik, Wirtschaft und Gesellschaft tun, um Schüler:innen für die Tech-Branche zu begeistern?
Pohlink: Im Bereich digitaler Bildung gibt es sicherlich Nachholbedarf. Gerade in Homeschooling-Zeiten erleben wir alle Dinge, wo man mitunter wirklich nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen möchte. Mein Motto lautet jedoch: Machen statt meckern. Jeder kann seinen Beitrag zur digitalen Bildung leisten. Dazu muss ich nicht auf Verena Pausder warten, die aktuell sehr viel Tolles bewegt. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Für die Wissenschaftstage an der Grundschule meiner Tochter habe ich mir stets freigenommen. Ich habe Tech-Utensilien wie VR-Brillen oder Roboter eingepackt und den Kindern Tech-Themen nähergebracht. Ein Kollege von mir hat an einer Schule eine Tech-AG gegründet. Auch als Konzern engagieren und unterstützen wir im Bereich digitale Bildung, in dem wir beispielsweise Schulklassen zu uns in die T-Labs einladen. Keine Zeit ist für mich übrigens kein Argument. Mein Tag hat auch nur 24 Stunden. Zeit hat man nicht, man nimmt sie sich und ich priorisiere an der Stelle anders und sage, das ist eben meine Verantwortung und die setze ich um.
Großartig, dass du dich persönlich derart für digitale Bildung einsetzt. Du betreust auch Besuche von Schulklassen bei Euch in den T-Labs. Was erwartet Schüler:innen dort?
Pohlink: Wir erklären den Kindern kindgerecht KI. Wir fragen auch, was sie schon kennen. Dann kommt als Antwort direkt der Staubsaugerroboter oder sie nennen Sprachassistenten wie Alexa oder Siri. Mich beeindruckt, was die Kinder schon an Wissen mitbringen. In den T-Labs haben wir vier Stationen mit Robotern, wo die Kinder sich ausprobieren und aktiv mitmachen können. Mit einem Einplatinencomputer Calliope mini können sie zum Beispiel programmieren lernen. Große Begeisterung löst bei den Kindern auch NAO aus, der kleine Roboterbruder vom berühmten Pepper. Das Schönste ist für mich persönlich, wenn ich sehe, wie begeistert die Kinder bei der Sache sind – und dass selbst die größten Rabauken an meinen Lippen hängen.
Haben Kinder denn gar keine Berührungsängste mit KI?
Pohlink: Kinder sind sehr offen und probieren gerne aus. Das zeigt sich schon daran, welch kreative Fragen sie beispielsweise in unseren Workshop-Formaten an Alexa haben. Natürlich müssen wir unseren Kindern eine gewisse Medienkompetenz beibringen. Die MIT Wissenschaftlerin Stefania Druga erforscht seit Jahren, wie Kinder mit KI umgehen und ihre Forschungsergebnisse bestätigen die Offenheit von Kindern gegenüber KI. Wenn Berührungsängste bestehen, liegt es daran, dass Eltern ihren Kindern diese vermittelt haben.
In deinem Team seid ihr – dich eingerechnet – zwei Frauen. Wo stehen wir aus deiner Sicht beim Thema Frauen in Tech?
Pohlink: Es gibt aus meiner Sicht viele großartige Frauen in Tech. Die Herausforderung liegt aktuell noch in der fehlenden Sichtbarkeit. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass sich dies für die nachkommende Generation von Frauen schon anders darstellt. Es verändert sich aus meiner Sicht etwas – zwar in kleinen Schritten – aber es ändert sich.
Du hast selbst eine beeindruckende Karriere gemacht, warst bzw. bist für renommierte Konzerne wie MTV, Jamba/Rocket Internet und die Telekom tätig. Welche Eigenschaften oder Fähigkeiten waren in der Retroperspektive für deine berufliche Laufbahn besonders hilfreich? Und wie lautet dein Karriere-Tipp an Frauen?
Pohlink: Ich wünsche mir, dass Frauen einfach mutiger sind, dass sie ihre Stimme erheben, Dinge einfach aussprechen und für sich und ihre Projekte einstehen. Ich glaube, dass vielen Frauen Zurückhaltung in die Wiege gelegt wird. In Meetings sind es häufig Männer, die als Erste das Wort ergreifen. Frauen halten sich eher zurück, weil sie vielleicht auch Angst haben, etwas Falsches zu sagen. Diese Zurückhaltung müssen Frauen unbedingt ablegen.
Wenn wir dir noch einen weiteren Job geben und dich zur Chefredakteurin eines Leitmediums machen. Wie lautet deine Schlagzeile zum Thema Frauen in Tech und was steht in deinem Artikel?
Pohlink: Das ist schwierig. Die Tatsache, dass eine Frau CEO wird, ist den Leitmedien heute eine riesige Schlagzeile wert. Ich wünschte mir, dass es ganz selbst verständlich ist, dass es Geschäftsführerinnen oder Vorständinnen gibt. In meinem Leitmedium würde daher nur die kompetente Person erwähnt, die neuer Vorstand ist, weil sie großes Inhaltliches geleistet hat, ohne explizit zu sagen, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt.
Dr. Julia Freudenberg, CEO der Hacker School, hat uns in unserem letzten Interview folgende Frage für dich mitgegeben: Es gibt eine ganze Reihe an negativen Glaubenssätzen, die Frauen und Mädchen zurückhalten und benachteiligen. Wie können wir als Frauen konkret dazu beitragen, diese Glaubensätze aufzulösen, umzudeuten und durch neue, positive Glaubenssätze zu ersetzen?
Pohlink: Ich glaube, wir müssen alle an unseren eigenen Vorurteilen und stereotypen Bildern arbeiten. Wir haben einfach viel zu häufig Stereotypen vor den Augen: der Mann als Jäger, die Frau als Sammlerin, das stimmt nicht. Dazu fällt mir ein Artikel aus dem Stern ein: „Ende eines patriarchalen Mythos – Frauen gingen in der Steinzeit auf die Jagd“. Forscher fanden in den Anden Knochen eines Jägers. Sie wunderten sich, dass die Knochen so klein und leicht waren. Die verblüffende Erkenntnis: Es waren die Knochen einer Jägerin und somit der Beweis, dass es vor neuntausend Jahren auch weibliche Jägerinnen gab.
Welche Frage möchtest Du uns vor dem Kontext Diversity und Gender für unsere nächste Interview-Partnerin mitgeben?
Pohlink: Was mich wirklich umtreibt, ist die Frage: Warum haben wir in Deutschland in der Wirtschaft im Top-Management einen so geringen Anteil an Frauen im Vergleich zu anderen Ländern? Wir haben seit 16 Jahren eine Kanzlerin, Ursula von der Leyen ist Präsidentin der Europäischen Kommission. Wir haben eine hohe Anzahl an weiblichen BWL-Studentinnen. Warum schlägt sich das im Top-Management deutscher Konzerne nicht nieder? Und was machen andere Länder besser als wir?
Herzlichen Dank für deine Zeit und das Interview, Claudia Pohlink!
Weitere Informationen zum Thema Frauen in der Tech-Branche finden Sie in unserer Pressemitteilung, und in unserer Studie „Frauen in Tech“ und auf unserer LiT Themenseite
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