25.01.2022

Meer aus Daten: Marispace-X vernetzt die Ökosysteme

Von Nils Klute, Projektmanager Kommunikation EuroCloud Deutschland

Den Klimawandel bremsen, digitale Chancen für die Windkraft ausloten und alte Munition aus dem Ozean räumen – mit Marispace-X ist zum Jahreswechsel ein Big Data-Projekt an den Start gegangen, das auf Gaia-X setzt. Warum es neue Technologien und Vertrauen braucht, um Potenziale aus dem Meer an die Oberfläche zu holen.

Es ist grün, hat Wurzeln, wächst unter Wasser und gilt als Mittel gegen den Klimawandel: Seegras ist ein natürlicher CO2-Speicher. Die Pflanze bindet das im Wasser gelöste Gas und lagert es im Boden ein. Etwa 600.000 Quadratkilometer des Meeresgrunds sind mit der Zostera-Familie bedeckt: Dabei nimmt die Fläche, die der Größe Frankreichs entspricht, jährlich rund 83 Millionen Tonnen Kohlenstoff auf – so viel, wie alle Autos in Italien und Frankreich im gleichen Zeitraum ausstoßen. „Seegras wächst auch vor unseren Küsten“, sagt Jann Wendt, CEO von north.io. „Allerdings sind die Umweltbedingungen, die die Wiesen brauchen, um möglichst viel Kohlendioxid aufzunehmen, nur wenig erforscht.“ Das Problem: Die Datenlage ist unklar.

Die Digitalisierung des Ozeans: Seegrasfelder gezielt anbauen

Wendt koordiniert ein Projekt, das unter anderem genau das ändern will. Mit Marispace-X ist Anfang 2021 ein Konsortium aus Wissenschaft und Wirtschaft an den Start gegangen, das die Digitalisierung des Ozeans vorantreibt. Der Smart Maritime Sensor Data Space X, kurz Marispace-X, soll ein intelligenter Big Data Hub für die Weltmeere werden und ist eingebettet in Gaia-X. Erst kürzlich hatte das Bundeswirtschaftsministerium aus mehr als 130 Anträgen 16 deutsche Leuchtturmprojekte ausgewählt, die einen signifikanten Beitrag zur europäischen digitalen Infrastrukturinitiative leisten können. Das Projekt von Wendt gehört dazu: „Wir wollen maritime Geodaten nutzbar machen, sie mit anderen Quellen verknüpfen und teils unter Wasser verarbeiten.“

Um Seegras besser zu erforschen, verschneidet Marispace-X Informationen aus dem Weltall mit Daten aus dem Meer. „So bestimmen wir, wo die Pflanze wächst und wieviel Kohlendioxid sie gespeichert hat“, sagt Wendt. Die übergreifenden Analysen zeigen, welche Bodenbeschaffenheiten oder Mikroströmungen die Wiesen benötigen. Das Ziel: Seegras soll sich gezielt kultivieren lassen, um Klimaeffekte zu kompensieren. So sieht der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung bereits ein entsprechendes Anbauprogramm vor. Aber das Gewächs kann noch viel mehr als das: Seegras holt Plastikmüll aus dem Meer. Mikropartikel verfangen sich in Pflanzenresten und bilden faserige, schwimmende Kugeln, die die Wellen an Land spülen. Nicht anders der maritime Datenraum. „Viele Potenziale sind noch gar nicht bekannt“, sagt Wendt. Woran das liegt: „Meeresdaten sind wahre Schätze! Sie zu heben, ist sehr aufwendig.“

Datenverarbeitung unter dem Meeresspiegel: Hoher Aufwand, enorme Kosten

Wer mit Daten aus dem Ozean arbeitet, plant mit anderen Technologien als an Land. Wendt: „Hohe Bandreiten wie beim Mobilfunk sind undenkbar. Unter Wasser lassen sich nur wenige Baud übertragen.“ Herausforderungen wie diese prädestinieren Edge- und Fog-Computing. Das bedeutet: Wo immer es möglich ist, verarbeiten Roboter, Logger oder Sonden Sensorwerte an Ort und Stelle. Am Ende tauschen sie dann aggregierte Ergebnisse oder kleinere Pakete aus. „Entweder kommen die Daten via Kabel an Land“, sagt Wendt: „Oder die Anlagen sind so weit draußen, dass es nur noch per Funk geht – wenn überhaupt.“ So sammeln beispielsweise Bojen Daten von Sensorfeldern ein und übertragen sie via Mobilnetz oder Satellit. „Wenn das nicht möglich ist, werden die Daten direkt von Schiffen aufgenommen.“ Die Folge: Enorme Kosten. Pro Schiffseinsatz und Tag können sich diese auf rund 50.000 bis 100.000 Euro aufsummieren. Zustände wie diese machen deutlich: „Maritime Daten sind so kostbar, dass sie niemand gern mit Dritten teilt“, sagt Wendt.

Neue Technologien für das Internet of Underwater Things

Marispace-X soll das ändern. Und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen forscht das Projekt an neuen Technologien, die Daten unter Wasser einfacher und kostengünstiger fließen lassen sollen. So bringt das Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung (IGD) mit dem Rostocker Digital Ocean Lab einen weiteren Use Case in das Konsortium ein: Das Unterwasser-Testfeld soll neue Systeme und Lösungen für das Internet of Underwater Things entwickeln und realitätsnah erproben. Und zum anderen soll Gaia-X bestehende Hemmnisse bei Stakeholdern auflösen, damit aus kostspieligen Datensammlungen ökonomische Mehrwerte entstehen.

Gaia-X: Der Rahmen für maritime Datenschätze

„Gaia-X und Marispace-X passen ideal zusammen“, sagt Wendt. „Das verteilte Datenökosystem bietet genau den souveränen, sicheren und vertrauensvollen Rahmen, um maritime Informationen auszutauschen.“ Auf Basis europäischer Werte und Standards lassen sich Interessen ausgleichen und übergreifende Datenchancen ausschöpfen. Wendt: „Gaia-X liefert uns offene Standards, um Silos zu sprengen, und ein Set an föderierten Diensten, um uns die Arbeit zu erleichtern.“ Beispiel Trust und Identity: Sind Sensoren auf dem Grund des Ozeans nur sporadisch verbunden, müssen sie sich trotzdem jederzeit vertrauensvoll identifizieren lassen. Gaia-X wird dafür notwendige Lösungsbausteine liefern.

Smarte Chancen für die Offshore-Windenergie

Bausteine wie diese sollen auch wenige Meter über dem Meeresspiegel digitale Wertschöpfung ermöglichen: „Interessen von Hersteller:innen verhindern bislang eine ganzheitliche Sicht auf Offshore-Windparks“, sagt Wendt. „Teils fließen Informationen nur sporadisch.“ So möchte Marispace-X Betriebs-, Wetter- und Meeresdaten verbinden. Und das nicht nur, um den Zustand der Kraftwerke besser zu überwachen, sondern auch, um jenseits der vorausschauenden Wartung innovative Services zu realisieren. Wendt: „Die möglichen Anwendungen sind noch gar nicht absehbar.“ Damit das gelingt, müssen reale Windparks im Computer auferstehen: Digitale Zwillinge sind Softwaremodelle, über die sich beispielsweise Anlagen, Maschinen und Serviceprozesse verwalten lassen. Wer künstlich intelligente (KI) Algorithmen auf die realzeitlichen Simulationen anwendet, der prognostiziert Trends. Wendt: „Um smarte KI-Chancen für die Offshore-Windenergie zu identifizieren, müssen Informationen souverän und sicher fließen.“

Behörden, Streitkräfte oder Universitäten: Gaia-X wird Anforderungen gerecht

Apropos Sicherheit: Ein weiterer Use Case von Marispace-X dreht sich um Munition im Meer. „Altlasten, die nach dem Zweiten Weltkrieg einfach verklappt wurden“, sagt Wendt: „Allein in Nord- und Ostsee liegen 1,6 Millionen Tonnen, was einem voll beladenen Güterzug mit einer Länge von 2.500 Kilometern entspricht.“ Wo die Gefahr in der Tiefe schlummert, ist heute nur noch teilweise bekannt. So arbeitet north.io am Kataster AmuCad.org, um das Problem weltweit zu dokumentieren. Gaia-X ist auch dann der zentrale Lösungsbaustein, wenn Behörden, Archive, Streitkräfte und Universitäten ihre Daten im Sinne der Kampfmittelräumung teilen sollen. Denn egal, ob Datenschutz-Grundverordnung oder Compliance, eigene Schutzinteressen oder Verschlusssachen: „Die dezentrale und interoperable Architektur wird den unterschiedlichen Anforderungen der Stakeholder gerecht“, sagt Wendt. Daten lassen sich gesamtheitlich auswerten, um Bomben, Granaten und Sprengstoff zu räumen sowie Schadstoffeinträge zu bestimmen: „Wo Munition liegt, sollte beispielsweise nicht gefischt werden.“ Was die Sache darüber hinaus herausfordernd macht: Teils arbeitet north.io mit Papierakten. Im Freiburger Militärarchiv summieren sich diese auf eine Länge von 50 Kilometern auf. „Die Dokumente werden gescannt und wir analysieren sie mit KI und werten die Ergebnisse aus“, sagt Wendt. Ein Verfahren, dass sich über Federated Learning leicht auf andere Archive übertragen lässt. Gaia-X schafft auch dafür den technologischen Rahmen.

Marispace-X setzt Impulse für Europa und die ganze Welt

Zahlreiche Organisationen haben sich bereits mit Marispace-X assoziiert – darunter viele aus dem Ausland. Wendt: „Egal, ob Norwegen, Brasilien oder Australien, der Ozean ist aktuell als Datenraum noch eine Nische. Die Fragen, die wir bearbeiten werden, sind aber von großer gesamtgesellschaftlicher Relevanz.“ So soll der maritime Data Space Impulse für Europa und die ganze Welt setzen. Reedereien haben die Zeichen der Zeit bereits erkannt. Sie rüsten ihre Schiffe mit immer mehr Sensoren aus. So ergänzen sie die Daten ihrer Kundschaft auf Wunsch um zusätzliche Parameter, was weitergehende Analysen ermöglicht. „Ursprünglich planten wir unseren Big Data-Hub nur als Firmenprojekt“, sagt Wendt: „Unser Infrastrukturprovider IONOS machte uns auf Gaia-X und die laufenden Förderaufrufe aufmerksam.“ Am Ende kam eines zum anderen. Schließlich gibt es bislang keine Plattformen, um Meeresdaten massenweise zu verarbeiten. „Und schließlich gibt es keine andere Infrastruktur, um die vielschichtigen Bedürfnisse unserer heterogenen Zielgruppen derart souverän auszugleichen“, sagt Wendt: „Das kann nur Gaia-X.“ Nicht anders Seegras: Ein Quadratkilometer Wiese unter Wasser speichert fast doppelt so viel Kohlenstoff aus klimaschädlichem Kohlendioxid wie Wald an Land.

Drei Jahre Laufzeit, 15 Millionen Euro Gesamtbudget

Marispace-X ist im Januar 2022 mit einer Laufzeit von drei Jahren gestartet. Das Gesamtbudget des Konsortiums, zu dem neben der Universität Kiel und north.io auch TrueOcean, IONOS, Stackable, das GEOMAR Helmholtz Zentrum für Ozeanforschung, Fraunhofer IGD, MacArtney Germany und die Universität Rostock gehören, beträgt rund 15 Millionen Euro. Weitere Informationen unter www.marispacex.com.

 

Jann Wendt, CEO von north.io, koordiniert das Big-Data-Projekt Marispace-X.

Zur Person

Jann Wendt (34) ist Geschäftsführer der im Kieler Wissenschaftspark ansässigen north.io GmbH, die er 2010 auch gegründet hat. An der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel schloss er ein Studium der Umweltgeographie und des Umweltmanagements als Master of Science ab. Mit der TrueOcean GmbH (2019) und der NatureConnect GmbH (2020) gründete Wendt zwei weitere Unternehmen an der Schnittstelle von Umweltschutz und Technologie.

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